Prof. Dr. Wilfried Stroh (München) über die Aktualität der griechisch-römischen Philosophie:

Drängender und bedrohender (…) ist heute, wie seit nun schon dreißig Jahren jeder wissen kann, die globale „Umweltkatastrophe“ geworden. Und hinter diesem (…) Schlagwort steckt der Zweifel daran, ob überhaupt der Fortschritt durch die nur technisch-wissenschaftliche Vernunft, durch das die Natur unterwerfende „Scientia est potentia“ (Wissen ist Macht) Glück und Überleben der Men­schen garantiere. Ein solcher Zweifel öffnet dann aber naturgemäß den Blick auf die ganz andere und uns doch nahe liegende Kultur der Antike, die unsere Fortschrittsidee nicht kannte, für die der Begriff des Maßes im Zentrum der Ethik stand und die vor allem das Glück ganz anders definierte. Cicero und Seneca – der zurzeit (in Übersetzungen) meistgelesene Philosoph – haben dazu vieles zu sagen, und nicht um­sonst krönte früher einmal der philosophische Lyriker und Satiriker Horaz den Lateinunterricht. Seine Predigt einer Besinnung auf das, „was genug ist“ (quod satis est), steht in völligem Gegensatz zu der heute weithin herrschenden Vorstellung, wonach Wachstum und Mehrhabenwollen (avaritia) die unverzichtbaren Motoren des allgemeinen Glücks seien.

 (Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein. Kleine Geschichte
einer großen Sprache. Berlin 2007. S. 288.)